Dienstag, 15. Mai 2007

Angrivarierwall

Schon die ersten Funde von Schleuderbleien hätten die Kalkrieser von der Varusschlacht-Hypothese 9 n. Chr. zur Angrivarierwall-Hypothese 16 n.Chr. bringen können, weil es unter allen den bellum Germanicum betreffenden antiken Quellen nur eine Stelle gibt, an der Schleudererexplizit hervorgehoben werden: bei Tacitus, Annalen II, 20 - aber nicht bei der Varusschlacht. Die Stelle lautet: "Sensit dux imparem comminuspugnam remotisque paulum legionibus funditores libritoresque excuteretela et proturbare hostem iubet": Germanicus merkte, wie ungleich der Nahkampf war und zog daher die Legionen ein wenig zurück, um den Schleuderern und Wurfschützen zu befehlen, ihre Geschosse zu entsenden und den Feind vom Wall zu vertreiben.

Diese Übersetzung fügt sich nahtlos in die Beschreibung der Kämpfe um den Angrivarierwall bei Tacitus ein, wenn man seine beiden Fehler ausmerzt, nämlich (1) die Behauptung, der Angrivarierwall sei als Grenzscheide gegen die Cherusker erbaut worden und (2) die Weser sei noch in der Nähe gewesen. Bei diesen Fehlern handelt es sich nicht etwa um Irrtümer, sondern um bewusste Manipulation, um Germanicus immer besser aussehen zu lassen als Tiberius und die krassen Fehler dieses Feldherrn gegenüber Arminius nicht zugeben zu müssen.

Dann liest sich Tacitus II, 19/20 wie eine exakte Beschreibung der Kalkriese-Topographie. Die Legionen sind also auf dem Rückmarsch der angeblich verlustfreien siegreichen Schlacht bei Idistaviso östlich derWeser und wollen zu ihren Schiffen an der Ems zurück: (19)"Volk und Adel, alte und junge Leute stürzten sich plötzlich auf die römische Marschkolonne und brachten sie in Verwirrung. Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der von ... Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale, sumpfige Fläche befand [Niewedder Senke]. Auch um das Waldgebiet zog sich ein tiefes Moor [Großes Moor, im Norden], nur eine Seite hatten die Angrivarier durch einen breiten Damm erhöht ... . Hier ging das germanische Fußvolk in Stellung; die Reiterei nahm in den nahe gelegenen Lichtungen Deckung, um den römischen Legionen, sobald sie in den Wald einmarschiert seien, in denRücken zu fallen. (20) Diejenigen Römer, denen das ebene Gelände zugewiesen war, brachen mühelos in den Wald ein; dagegen hatten die anderen, die den Erdwall zu erstürmen hatten, gerade als wenn sie an eine Stadtmauer heranrückten, unter den schweren Hieben von oben her zuleiden. (Hier kommen jetzt die Schleuderer zum Zuge, s. o.). An der Spitze seiner Prätorianerkohorten eroberte Germanicus den Wall und trat zum Sturmangriff auf den Wald an, wo Mann gegen Mann rang. Der Feind hatte im Rücken das Moor, die Römer ... die Berge. Beide Teile mussten unbedingt ihre Stellung halten, sie konnten sich nur auf ihren Mannesmut verlassen und nur von einem Sieg Rettung erhoffen".

Die meisten Forscher vermuten bisher den Angrivarierwall wie ja mit Recht auch den "Herakles-Hain" von Idistaviso östlich der Weser, weil Tacitus zweimal "den Fluss" in den Text einfließen lässt, womit er sicherlich die vorher mehrfach genannte Weser meint. Ein weiterer Fehler ist bei Tacitus die Behauptung, die Angrivarier hätten den Wall als Abgrenzung gegen die Cherusker gebaut. Das hätte einen sehr langen und sehr hohen Damm gebraucht! In Wirklichkeit benutzten die Angrivarier dies als Ausrede gegenüber Germanicus und Stertinius, nachdem sie schon wieder mit den Cheruskern gemeinsame Sache gegen die Römer gemacht hatten: Sie hätten alles versucht, sich von den Cheruskern abzugrenzen, wie man an dem Damm sehen könne usw.! Die Feldherren waren in Wirklichkeit froh, dass die Angrivarier sie nach den großen Verlusten in Kalkriese unbehelligt zur Ems abziehen ließen:(22)"Da sie sich bedingungslos ergaben, erhielten sie Verzeihung für alle ihre Vergehen".

In Wirklichkeit kamen die Römer nur leidlich davon, konnten so aber ihr Gesicht wahren. Und Tacitus trägt absichtlich dazu bei, Germanicus weiter als strahlenden Held denn als Versager auf der ganzen Linie darzustellen. Dagegen wird Tiberius als der Böse dargestellt, der Germanicus seine Erfolge nicht gönnt und ihn deswegen nach Rom zurückbeordert. In Wirklichkeit hatte er längst realisiert, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Dafür kannte er aus seinen langjährigen Einsätzen in Germanien die dortigen Bedingungen viel zu genau und viel besser als sein Vorgänger Augustus.

Wenn auch Wolters als anerkannter Altertumsforscher und fundiertester Varusschlacht-in-Kalkriese-Kritiker nicht den Angrivarierwall erkennt, sondern die Pontes Longi als Lösung anbietet, dann liegt das sicherlich daran, dass er die zweimalige Erwähnung des Flusses (Weser) bei Tacitus als bare Münze, statt als Fälschung des Schriftstellers, nimmt. Sonst wäre ihm wohl auch aufgefallen, dass die Wilbers-Rost-Erklärungen zum Spitzgraben als germanischer Schanzarbeit sich aus der Tacitus-Schilderung zum Angrivarierwall leicht widerlegen lassen:(21)"Erst spät am Tage zog Germanicus eine Legion aus der Schlacht, um ein Lager zu schanzen. Die übrigen sättigten sich bis zum Eintritt der Dunkelheit an dem Blut der Feinde. Der Kampf der Reiterei blieb unentschieden". In Kalkriese musste also ein Lagergraben gefunden werden, um die Hypothese vom Angrivarierwall zu verifizieren; von den Kalkriesern wurde diese Gefahr erkannt, weshalb sie daraus flugs eine germanische Schanzarbeit machten, für die es aber nirgends ein Vorbild gibt.

Besser können Texte und archäologische Funde nicht zusammen passen!

Leider lässt die zu frühe Festlegung der Kalkrieser auf die Varusschlacht 9 n. Chr. und des wichtigsten Kritikers Wolters auf die Pontes Longi nicht zu, jetzt ernsthaft statt der Varusschlacht- und Pontes-Longi-Hypothesen die Angrivarierwall-Hypothese genauer unter die Lupe zu nehmen.

Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. S. G. Schoppe

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